Gedanken zum Gedicht

Heutzutage liest man keine Gedichte mehr. Man braucht sie einfach nicht mehr. Sie sind ein Opfer des Fortschrittes geworden. Alle Gedicht-Einsatzgebiete sind heute durch effizientere Methoden ersetzt worden.

Schauen wir uns zum Beispiel den Merkvers an. Über lange Jahrhunderte und Jahrtausende, als die Schrift noch nicht erfunden war oder noch nicht allgemein gebräuchlich, war der Merkvers die beste Möglichkeit, etwas über längere Zeit im Gedächtnis behalten zu können. Hier als Beispiel so ein Merkvers für Politiker:

Der Mensch merkt auf, wenn einer spricht
und ihn mit gutem Wort besticht.
Drum rede klar und schwafle nicht,
so gibt das deiner Red’ Gewicht.

An diesem Beispiel sieht man einerseits, dass es bedauerlich ist, dass es keine Merkverse mehr gibt. Andererseits ist aber auch klar, dass man sich (gerade als Politiker) nicht alles merken kann, was man sagt – und das oft auch gar nicht will. Darum:.

Sich alles merken wär’ vermessen,
Es braucht zum Wissen das Vergessen.
Es löschen geht nicht, trotz anstrengen,
Was höchstens geht ist das Verdrängen.

Und wenn man doch mal dringend was wissen muss, hat man ja Google und Wikipedia. Unser Gedächtnis ist also ausgelagert.

Auch andere traditionelle Anwendungsfälle des Gedichtes sind hinfällig geworden. So brauchen wir keine Kinderreime mehr, denn die Kinder sind mit TV und Smartphone beschäftigt. Und wenn sie mal gerade nicht Angry Birds auf dem Mobiltelefon spielen, dann sind sie damit beschäftigt, den Erziehungsberechtigten aus dem Zeitalter der Gedichte die Funktionsweise dieser Geräte zu erklären.

Auch Trinksprüche und Lebensweisheiten müssen nicht mehr gereimt werden. Die Trinker vergessen sie eh immer wieder und Lebensweisheiten vermittelt uns die Werbung.

Auch die Literatur, einst Heimat von Balladen und Sonetten, hat sich vom Endreim verabschiedet und findet, infolge fehlender Unterstützung durch die Buchpreisbindung, wie einige sagen würden, ihre Erfüllung in Thrillern und Krimis.

Eine einzige Bastion hält sich tapfer, das soll nicht unerwähnt bleiben, auch wenn es sich dabei um gesungene Reime handelt: Die Schnitzelbänke, insbesondere der Basler Fasnacht.

Das Fazit aber bleibt trotzdem bestehen: Das Gedicht ist verdrängt, ersetzt und abgelöst. Und ich finde das gut. Es war höchste Zeit für eine Veränderung nach Jahrtausenden unnötiger Merkverse, peinlicher Trinksprüche und alberner Kinderreime. Endlich ist im jungen 21. Jahrhundert das Gedicht befreit von uralten Zwängen und Konventionen und kann sich in neue Bereiche vorwagen, neue Medien und Verbreitungsmöglichkeiten nutzen und damit neue Leserkreise erschliessen. Der Regelbruch als Aufbruch:

Es gibt Regeln, Konventionen,
Sie befolgen tut nicht lohnen:
Wenn man diese Regeln bricht,
bringt das weiter das Gedicht.

(Ok, dieser Post ist schon älter - er wurde das erste Mal veröffentlicht am 25.10.2013 auf meinem alten Blog: http://blog.markdot.com/)

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